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Beitrag von Dr. Rodolfo Dolce für die 3. Auflage der Europäischen Konferenz über L'Europe du DROIT

Beitrag von Dr. Rodolfo Dolce für die 3. Auflage der Europäischen Konferenz über L'Europe du DROIT

Welche Möglichkeiten bietet das deutsche Recht, um außergerichtlich gegen Entscheidungen staatlicher Institutionen vorzugehen, und welche Rolle spielen dabei Rechtsanwälte?

1. Zunächst ist die Sonderstellung des Rechtsanwalts im deutschen Rechtssystem zu beachten. Die erste bundesgesetzliche Vorschrift, die den Berufsstand des Rechtsanwalts regelt, ist § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Danach ist der Rechtsanwalt nicht in erster Linie als Vertreter parteipolitischer Interessen, sondern als Teil der allgemeinen – d. h. staatlichen – Rechtspflege zu verstehen. Die Bestimmung lautet wie folgt: „Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege.“

2. Diese Einbindung der Rechtsanwälte in die optimale Erfüllung der staatlichen Aufgaben hat Vor- und Nachteile. Der offensichtliche Nachteil besteht darin, dass die Interessen des Mandanten nur im Rahmen dieses staatlichen Auftrags verfolgt werden können. Die Vorteile liegen darin, dass die Exekutive die Rechtsanwälte auch in internen Verwaltungsverfahren als natürliche Vertreter der Interessen der Bürger anerkennt. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass alle voll ausgebildeten Juristen in Deutschland, seien es Richter, Staatsanwälte, Beamte oder Rechtsanwälte, die gleiche Ausbildung absolviert und die gleichen Prüfungen bestanden haben. Dadurch verhalten sie sich untereinander kollegialer als in den meisten anderen Ländern, unabhängig davon, ob diese lateinischer oder angloamerikanischer Prägung sind.

3. Darüber hinaus bietet das deutsche öffentliche Recht, das in seinem Streben nach Perfektion noch immer der Tradition der preußischen Verwaltung folgt, eine umfassende interne Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen in einem formellen Verfahren auf Landes- und Bundesebene, das vom betroffenen Bürger und seinem Anwalt in Anspruch genommen werden kann. Der Staat erstattet den Bürgern sogar die Kosten für einen Anwalt, wenn die vom Bürger über seinen Anwalt eingeleitete interne Überprüfung der Verwaltungsentscheidung erfolgreich ist und die Hinzuziehung eines Anwalts als notwendig erachtet wird (§ 80 Verwaltungsverfahrensgesetz). Dies ist in der Regel der Fall, wenn in der Verwaltungsentscheidung Rechtsfragen zu klären waren.

4. Nach deutschem Recht handelt die Behörde, die aus der übergeordneten Stellung des Staates Rechte gegenüber den Bürgern ableitet, durch einen sogenannten Verwaltungsakt. Ein Verwaltungsakt ist praktisch jede Verwaltungsmaßnahme mit Außenwirkung, d. h. eine Maßnahme, die  jeden Bürger betreffen kann.

5. Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, muss der Beteiligte Gelegenheit erhalten, zu den für die Entscheidung relevanten Tatsachen Stellung zu nehmen. Auch in dieser Phase des Entscheidungsprozesses hat der Betroffene das Recht, einen Anwalt mit seiner Vertretung vor der Behörde zu beauftragen (§ 14 Verwaltungsverfahrensgesetz).

6. Die Stellung des Rechtsanwalts ist auch in diesem Vorverfahren geschützt. Gemäß § 14 Abs. 3 Satz 1 VwVfG hat die Behörde den Rechtsanwalt zu kontaktieren, wenn er für das Verfahren bestellt wurde. Diese Vorschrift verbietet der Verwaltungsbehörde grundsätzlich, einen Verfahrensbeteiligten unter Umgehung des Vertreters direkt zu kontaktieren. Nur in Ausnahmefällen und mit Zustimmung des Rechtsanwalts kann von dieser Vorschrift abgewichen werden, § 14 Abs. 3 Sätze 2 und 3 VwVfG.

7. Gemäß § 68 VwGO kann jeder Bürger, der eine Verwaltungshandlung nicht hinnehmen will, innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Der Widerspruch führt zu einem internen Vorverfahren (dem sogenannten „Widerspruchsverfahren“), in dem eine höhere Behörde den Sachverhalt erneut prüft.

8. Die übergeordnete Behörde leitet den Widerspruch zunächst an die ursprüngliche Behörde weiter und gibt ihr Gelegenheit, insbesondere wenn im Widerspruch neue Tatsachen vorgebracht wurden, dem Widerspruch selbst abzuhelfen. Beseitigt die untergeordnete Behörde den Widerspruch nicht selbst, führt die übergeordnete Behörde das Widerspruchsverfahren durch und gibt dem Widersprechenden oder seinem Rechtsbeistand erneut Gelegenheit zur Stellungnahme. In einigen Bundesländern werden zu diesem Zweck Anhörungsausschüsse gebildet, die in erster Linie dazu dienen, die betroffenen Parteien mündlich anzuhören und Empfehlungen an die Verwaltung abzugeben.

9. Wenn die Behörde dann eine endgültige Entscheidung trifft, die für den Betroffenen nachteilig ist, steht der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten offen.

10. Wie wir sehen, bietet das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht den Bürgern ein hohes Maß an Schutz vor plötzlichen, unbegründeten und willkürlichen Entscheidungen der Behörden. Im Verwaltungsverfahrensrecht soll der Rechtsanwalt auch als interner Berater des Bürgers innerhalb der Behörden fungieren.

11. Diese positive Grundlage darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Deutschland ein erhebliches Machtgefälle zwischen dem Staat und seinen Bürgern besteht, das selbst bei sorgfältiger Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorschriften zu materiell ungerechten Entscheidungen führen kann. Der Informationsunterschied zwischen den Behörden, die Zugang zu allen staatlichen Archiven und Informationsquellen haben, und den einzelnen Bürgern, die nur ihre eigene Position kennen, ist offensichtlich.

12. Diese Ungleichheit wurde bereits von der ersten Merkel-Regierung als Gefahr für das verfassungsmäßig garantierte Recht auf ungehinderten Zugang zu Informationen (Art. 5 Abs. 1 GG) erkannt, und seit 2016 wurden auf Landes- und Bundesebene sogenannte Informationsfreiheitsgesetze erlassen, die den Bürgern ein bedingungsloses Recht auf Information gewähren. Auf Antrag jeder natürlichen Person, unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb Deutschlands ansässig ist, sind die Behörden verpflichtet, Dokumente und Informationen offenzulegen oder Zugang zu Akten zu gewähren. Der Zugang zu Informationen muss unverzüglich, wenn möglich innerhalb eines Monats, gewährt werden. Eine Überschreitung dieser Frist muss von der Behörde begründet werden. Dieses Recht steht jedem zu (sogenanntes „Jedermannsrecht“) und setzt kein persönliches Interesse voraus. Damit wird das „Amtsgeheimnis“ faktisch abgeschafft. So müssen beispielsweise Protokolle interner Beratungen und interne E-Mails auf Antrag veröffentlicht werden.

13.  In der Praxis wird das Informationsfreiheitsgesetz vor allem von Journalisten genutzt, um für ihre Recherchen interne Daten von Behörden zu erhalten. Besonders erfolgreich sind die Betreiber der Plattform „Frag den Staat“ dabei, Missstände in der öffentlichen Verwaltung aufzudecken, indem sie die Möglichkeiten des Informationsfreiheitsgesetzes nutzen. So erfuhr die Öffentlichkeit beispielsweise von der Verschwendung von Geldern während der Coronavirus-Pandemie durch ungeeignete Ausschreibungen und den Kauf von stark überteuerten Masken. Aber auch historische Erkenntnisse wurden gewonnen, indem die Rolle von Konrad Adenauers engstem Vertrauten im NS-Regime, der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze war, aufgedeckt wurde.

14.  Die politische Debatte in Deutschland ist derzeit sehr lebhaft. Befürworter wollen noch einen Schritt weiter gehen und fordern ein Transparenzgesetz für die Bundesregierung nach dem Vorbild des Stadtstaates Hamburg, das Behörden verpflichten würde, Informationen direkt und nicht nur auf Anfrage zu veröffentlichen. Gegner des Gesetzes, darunter der derzeitige Kanzler Merz, wollen das Informationsfreiheitsgesetz als Mittel zum Bürokratieabbau ganz abschaffen. Diese Forderung, die von der CDU in den Koalitionsverhandlungen eingebracht wurde, wurde vom Koalitionspartner SPD abgelehnt, sodass das Informationsfreiheitsgesetz in den nächsten Jahren deutsches Recht bleiben wird.

15.  Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein wirksames Instrument für Anwälte, um die Ansprüche ihrer Mandanten gegenüber Behörden oder vor Gericht geltend zu machen. Es dient aber auch dazu, den Informationsvorsprung von Unternehmen zu verringern, die regelmäßig Gegenstand von Überprüfungen durch Behörden sind. Ein Beispiel ist der Dieselskandal, bei dem die Typgenehmigungsbehörde für die einzelnen Fahrzeuge den Verbrauchern gemäß dem Informationsfreiheitsgesetz auch die für Rechtsstreitigkeiten erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen musste.

16.  Neben dem Informationsfreiheitsgesetz gibt es weitere deutsche Gesetze, die Bürgern und ihren Anwälten ein Recht auf Zugang zu Informationen gewähren. Im Falle von Umweltinformationen kann auch ein Anspruch nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) in Betracht kommen. Wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Behörde Daten über den Mandanten gespeichert hat, kann ein Auskunftsanspruch nach der DSGVO bestehen.

Zusammenfassend lässt sich aus Deutschland berichten, dass die Stellung der Bürger in internen Verwaltungsverfahren geschützt ist und ihnen das Recht auf Anhörung garantiert wird. Auch die Stellung des Rechtsanwalts genießt in internen Verwaltungsverfahren besonderen Schutz; er ist der privilegierte Ansprechpartner der Behörde. Allerdings besteht nach wie vor ein Ungleichgewicht zwischen dem Informationsstand der Behörde und dem des Bürgers, das durch Gesetze, die die Behörden zur Offenlegung ihrer Kenntnisse verpflichten, abgebaut wird.

Frankfurt a. M., 15.Juni 2025